veröffentlicht im April 2009
in der Fachzeitschrift für Autorinnen und Autoren „Federwelt“ Nr. 75

Lesungen -
Literatur im freien Fall

Anfangs habe ich nur geschrieben, um „mich“ zu lesen. Das ist mein Weg, mich zu verstehen. Wirklich, in dem Moment, in dem ich mir das Geschriebene laut vorlese, verändert sich meine Wahrnehmung. Alles, was vorher noch schwer auf meinem Herzen lastete, wird leicht, alles Leichte wird bedeutsam und tief. Ich lese mir gern vor. Es ist wie eine Therapie.

Irgendwann las ich auch anderen vor. Meist mit zittriger Stimme und ebensolchen Händen. Was werden sie denken? Werden sie mich verstehen? Ist der Text gut? Solche Gedanken gingen mir durch den Kopf. Möglichst schnell wollte ich es hinter mich bringen. Ich jagte von Wort zu Wort, hastete durch die Sätze, als wäre der Buchstabenteufel hinter mir her, der jedes Wort löschen würde, das ich nicht schnell genug las. Ich hatte Glück: Die Reaktionen waren dennoch gut. Doch immer wieder fragte jemand nach, ließ sich einen Absatz nochmals vorlesen, und ich begriff Lektion Nummer eins: „Du musst langsam lesen!“

Es dauerte nicht lange und ich lernte die nächste Lektion. Es geschah, als ich einen sehr langen Satz lesen musste, einen, der verschachtelt und verschnörkelt in ungeraden Linien der deutschen Grammatik folgte, neue Wendungen fand, Kehrtwendungen könnte man sagen, um zu beweisen, dass es, ungeachtet seiner Länge, die man mit der Architektur amerikanischer Autobahnen vergleichen könnte, die bekanntlich in mehreren übereinander liegenden Ebenen verlaufen, durchaus möglich ist, dieses Unterfangen zu einem glücklichen Ende zu bringen. Die letzten Worte – hier „Ende zu bringen“ – konnte ich nicht mehr aussprechen. Sie blieben irgendwo im hinteren Teil meines Rachens hängen. Ich hatte keine Luft mehr. Alles, was ich herausbrachte, klang so ähnlich wie „enzringn“. – Daraus ergab sich: „Du musst atmen!“

Im Laufe der Zeit entdeckte ich immer mehr Dinge, die man beim Vorlesen beachten sollte. Hier meine Liste:

  • langsam lesen
  • atmen
  • Pausen machen, vor allem bei neuen Absätzen, neuen Themen, vor und nach wichtigen Textpassagen (Textstellen mit „Atemzeichen“ markieren)
  • laut und deutlich lesen
  • immer wieder hochschauen, also den Blick vom Blatt lösen und den Augenkontakt zum Publikum suchen
  • Betonungen einbauen, ohne zu übertreiben, um dem Text eine Melodie zu verleihen (aber nicht singen – oder vielleicht doch?)
  • Lesegeschwindigkeit variieren: Manche Textpassagen wie etwa Aufzählungen können schneller gelesen werden als andere.

Wichtig auch: Sie sollten sich wohlfühlen – kleiden Sie sich entsprechend! Gehen Sie niemals unvorbereitet in eine Lesung! Lesen Sie sich Ihren Text mehrere Male laut vor! Sie sollten ihn so gut kennen, dass Sie Ihr Publikum zwischendurch immer wieder anschauen können. Und das Wichtigste:

GENIESSEN SIE JEDES WORT, DAS SIE VORLESEN!

Literarisches Bungee-Jumping

Manchmal erzählen mir Kursteilnehmer, dass sie so aufgeregt seien, weil sie in ihren Texten so viel von sich selbst preisgeben. Ich finde, es gibt Texte, die gehören zu Hause in die Geheimschublade und nicht an die Öffentlichkeit. Sich vorab zu überlegen, welche Texte das sind, und die richtige Textauswahl zu treffen, ist absolut notwendig. Irgendwann entwickelt man natürlich auch eine gewisse Routine beim Lesen. Auch ein „falscher“ Text bringt einen dann nicht gleich aus dem Takt. Und außerdem: Eine gewisse Aufregung gehört zu jeder öffentlichen Lesung dazu. Das ist der Kick! Andere springen an einem Seil von der Brücke. Literatur im freien Fall – wenn man einmal damit angefangen hat, will man es immer wieder.

Mit Lesungen Geld verdienen

Lesungen sind für Autorinnen und Autoren die Möglichkeit, zusätzlich zu ihren in der Regel bescheidenen Buchhonoraren Geld zu verdienen. Die Honorare liegen für gewöhnlich zwischen 250 und 500 Euro (zuzüglich Reise- und Übernachtungskosten und Mehrwertsteuer). Doch in einer Stadt wie München mit großem kulturellem Angebot – und Sportveranstaltungen gibt es ja auch noch; denken sie daran bereits bei der Terminplanung! – muss man sich schon etwas einfallen lassen, um das Publikum anzuziehen. Und Obacht! Das Publikum ist anspruchsvoll! Die Qualität der Darbietung entscheidet über den Erfolg. (Ich habe mir daher eine Sprechausbildung gegönnt. Schadet nicht.) Natürlich gibt es die klassischen Lesungen, bei denen man als Autorin an einem kleinen Tisch mit einer Lampe sitzt und die Aufmerksamkeit durch nichts abgelenkt wird. Lesungen pur mag ich persönlich sehr gern, doch das breite Publikum sucht oft das Außergewöhnliche. Ich möchte Ihnen drei meiner Lesungsformate näher vorstellen:

Lesung & Musik

Margit Wöhrle am Akkordeon

Was passt besser zusammen als Musik und Worte?! Worte folgen einer eigenen Melodie. Ich habe neun Jahre Saxophon gespielt und hatte drei Jahre Gesangsunterricht. Musik ist mir wichtig. Ich besuche gern Konzerte, sie inspirieren mich. So lernte ich auch Margit Wöhrle kennen, eine erstklassige Musikerin und Akkordeonistin. Margits Mann liebt Literatur; sie besuchten eine meiner Lesungen, und schon bald war eine neue Idee geboren. Wir wollten Musik und Literatur auf neue Art kombinieren. Dafür schrieb ich die Erzählung „Brunos Tango“, eine Liebesgeschichte, in der es um den Verlust eines Akkordeons und um die Suche danach geht. Das Besondere an dieser Lesung ist, dass die Musik den Text nicht nur begleitet, sondern direkt in ihn hineinverwoben wird. Immer wieder unterstreicht Margit mit ihrem Akkordeon Textpassagen durch Klangeffekte. Der Protagonist atmet ein, Margit drückt den Balg des Akkordeons zusammen… Außerdem hat Margit eigens für diese Erzählung viele stilistisch sehr unterschiedliche Musikstücke komponiert, sodass auch KonzertliebhaberInnen auf ihre Kosten kommen. Das Ergebnis ist ein etwa einstündiges Programm, das häufig gebucht wird.

Lesung & Vernissage

Christophe Schneider (sitzend)

Eine ähnlich inspirierende Begegnung hatte ich mit Christophe Schneider, der die Welt durch den Sucher seiner Kamera findet. Als ich seine Fotos sah, hatte ich eine Eingebung und schlug vor, eine Lesung mit Vernissage zu realisieren und seine Bilder als Grundlage für die Erzählung zu wählen. Da mir Christophes Bilder sehr gefallen, hatte ich sofort eine vage Idee. Natürlich hätte ich zu jedem Foto einen stimmungsvollen Text schreiben können. Doch das reichte mir nicht. Ich wollte eine zusammenhängende Erzählung, die die unterschiedlichen Fotos miteinander verbindet. Die schwierigste Aufgabe bestand für mich darin, einige Arbeiten von Christophe auszuwählen und in ihnen erzählerisch einen Zusammenhang zu finden. In acht Bildern entdeckte ich schließlich dieses Potenzial. Ich legte sie nebeneinander und machte mir zunächst zu jedem Bild einige Notizen. Viel Zeit verbrachte ich mit der Konzeption dieser Erzählung. Schließlich fand ich den Spannungsbogen und den roten Faden. Die Erzählung „Sonnengeflecht“ erzählt auf 23 Seiten die Geschichte eines Jungen, der seine Eltern auf tragische Weise verliert, den Wahnsinn erlebt und am Ende ins Leben zurückfindet. Die Lesung & Vernissage hatte 88 Besucher und war ein großer Erfolg. Wir haben Erzählung samt Fotografien als Booklet drucken lassen und alle fünfzig Exemplare verkauft. Auch hier verstärkten die großflächigen Bilder die Wirkung der Erzählung.

serie torticolis #3306, © Christophe Schneider1 serie voyages #3391, © Christophe Schneider2 serie voyages #3387, © Christophe Schneider3 serie voyages #3385, © Christophe Schneider4

Lesung & Menü

Essen und Trinken und dabei zeitgleich der Stimme einer Autorin oder eines Autors zu lauschen ist für viele eine angenehme Möglichkeit, Literatur zu erleben, ohne dass es „zu trocken“ wird. Der Gastronom von heute weiß, auch er muss Highlights bieten, um Gäste ins Lokal zu locken. Die so genannte Eventgastronomie ist gefragt und beliebt. Wo früher noch das schlichte Brunch-Buffet gelockt hat, muss heute mindestens ein Jazzpianist die Brötchen musikalisch belegen. Auch Lesungen sind gefragt. Oft muss man selbst aktiv werden und die Besitzer der entsprechenden Lokale ansprechen. Viele lassen sich von der Idee begeistern. Dann braucht es noch einen Text, der zum Anlass passt. Weihnachten sollte man nicht mit einer bestialischen Horrorgeschichte aufwarten, es sei denn, dies ist als besonderes Event geplant. Wenn man in den Text dann noch den Ort der Veranstaltung einbringt, was meistens problemlos möglich ist, fühlen sich die Zuhörer sofort in die Erzählung einbezogen.

Für mein Weihnachtsprogramm habe ich die Erzählung „Felix und das Weihnachtswunder“ in drei Akten geschrieben, die zwischen den Lesungen Zeit für die Gänge eines Weihnachtsmenüs lässt. Jeder Akt ist etwa zehn Seiten lang und endet an einer spannenden Stelle. Die wichtigste Aufgabe für mich als Autorin bei solch einer langen Lesung (30 Seiten) ist es, die Spannung zu halten, damit alle gern bis zum Ende zuhören.

serie Torticolis #2012, © Christophe Schneider5 serie Torticolis #1402, © Christophe Schneider6 serie Torticolis #2000, © Christophe Schneider7 © Christophe Schneider8

Feedback tut (den Texten) gut

Vielleicht fragen Sie sich jetzt, warum ich das alles mache? Ich stelle mich gern meinen potenziellen Leserinnen und Lesern. Aus ihren Reaktionen gewinne ich wertvolle Erkenntnisse über die Qualität meiner Texte. Direkt vor Ort entscheidet sich oft sehr schnell, ob ein Text spannend und interessant oder eine Passage zum Beispiel wirklich witzig ist. Ich genieße es, meinen Worten Ausdruck zu verleihen, indem ich ihnen meine Stimme gebe.

Eine Lesung ist ein bewusstes Spiel mit der Sprache. Sie ist eine Möglichkeit, Literatur zu (er-)leben.

Nach einer erfolgreichen Lesung wird man häufig wieder gebucht. Lesungen sind eine nicht zu unterschätzende Einnahmequelle für uns Autoren. Und sie machen Spaß!

Diana Hillebrand

Fotos:

„Lesung & Vernissage“: © Christophe Schneider

1. Bild: „Geblieben!“

2. Bild: „Bewegungslos“

3. Bild: „Lauf!“

4. Bild: „Versuchung“

5. Bild: „Sonnengeflecht!“

6. Bild: „Unten“

7. Bild: „Anderswo“

8. Bild: „Grün“

Cover der Federwelt Nr. 75

Dieser Artikel wurde im April 2009 in der
Federwelt — Zeitschrift für Autorinnen und Autoren —“ veröffentlicht.

PDF Auszug der Federwelt Nr. 75, Seite 12-15 PDF Datei anzeigen

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